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Abb. Marlon Meng. Abb. Marlon Meng.

Abb. Marlon Meng

1. Das arktische Eis und sein Schmelzen rücken mit zunehmender Dringlichkeit in den öffentlichen Fokus. Bereits im Jahr 2050 könnte Berechnungen zufolge ein Großteil des Nordpolarmeeres eisfrei sein und damit der Zugriff auf bisher ungenutzte umfangreiche Ressourcenfelder von Erdgas und Erdöl ermöglicht werden. Ein geopolitisches Interessen der Anrainer-Staaten wird in den nächsten Jahren mit sektionalen Aufteilung des arktischen Tiefseegrundes einhergehen. Zugleich findet diese Transformation der Arktis (und Antarktis) zunehmend als „Fieberthermometer“ des Klimawandels Präsenz in der Öffentlichkeit. Die Klimaerwärmung liegt hier dreimal höher.

Das anfängliche Ziel des hier vorgestellten Projekts war es, rechtlicher, politisch-kartografischer und künstlerischer Sprachen die historischen und gegenwärtigen unterseeischen Territorialansprüche um die Arktis in den Blick zu nehmen und als Beispiel eines Spannungsfelds zwischen „Teilung“ und Vergemeinschaftung einer „frontier zone“, eines nur dem Anschein nach „unberührten“ Grenzgebietes dieses Jahrhunderts zu befragen.  Dies sollte unter gleichzeitiger Betrachtung internationalen Rechtsprinzipien und Vereinbarungen (des Internationalen Seerechts und des Arktischen Rats), von Ressourcen-Politiken und ökologischen Veränderungen geschehen.

In dem vorangegangenen Projekt „Die Teilung der Erde – Tableaux zu rechtlichen Synopsen der Berliner Afrika-Konferenz“ (2006–2010) setzte sich Dierk Schmidt mit Kolonialgeschichte u.a. aus der Perspektive des historischen und aktuellen internationalen Rechts auseinander. Die Protokolle und Akte der Berliner Afrika-Konferenz 1884/85 bildeten dabei einen Ausgangspunkt, der durch die Aktualität der seit 2004 fortdauernden Debatte um den Genozid des deutschen Reiches an die Gesellschaften der Herero und Nama 1904-08 gekontert war. Eine Reihe von 14 großformatigen Tableaux übersetzte diese Recherche. Die gleichnamige Publikation dokumentiert und erweitert das künstlerisch-wissenschaftliche Projekt, das sich vor allem mit der Rolle Deutschlands im kolonialen Unterfangen des 19. Jahrhunderts und um die Bildung der damaligen modernen „internationalen“ Völkerrechtsordnung befasste.
Gemeinsam mit ca. 20 Studierenden der Kulturwissenschaften des Kunstraums der Leuphana Universität Lüneburg arbeitete Schmidt über mehrere Jahre an dem Projekt, in das ausgedehnte Archivrecherchen wie auch Reisen nach Namibia und die Zusammenarbeit mit Wissenschaftler*innen wie Nikita Dhawan und politischen Aktivist*innen wie Alfred Angula oder Cons Karamata (Namibia) einflossen. Der zugrunde liegende Ansatz, sich mit der deutschen Kolonialvergangenheit und deren Auswirkungen in der Gegenwart, der Komplexität und Vielschichtigkeit historischer und juristischer Prozesse überhaupt auseinanderzusetzen und dafür entsprechende künstlerische Darstellungsformen zu finden, wurde in mehreren Ausstellungen, eingebettet in wissenschaftliche Symposien, von 2005 bis 2009 u.a. auf der documenta 12 in Kassel gezeigt.

 

2. Das aktuelle Projekt wird als „Fortsetzung“ des oben genannten auch kritisch diskutiert, als dessen Variierung und Erweiterung dieses Arbeitsvorhaben inhaltlich und methodisch entwuchs. In einem gemeinsamen Prozess der Recherche und der Diskussion zu diesem Projekt erwies sich diese juristische Fokussierung als zu eng, weswegen inzwischen eine Erweiterung bzw. eine Verschiebung stattgefunden hat. Denn die bevorstehende Teilung des Tiefseegrunds des Nordpolarmeers als unterseeischer „Festlandsockel“ – als eine Fortsetzung des nationalen Festlands – wird durch die UN-Festlandsockel-Grenzkommission (FSGK) gemäß des Artikel 76 Abs. 8 des SRÜ (Internationalen Seerechtsübereinkommen) ohne Zweifel umgesetzt werden.

Der Tiefseegrund des Polarmeers wird wie ein strahlenförmig segmentiert Kreis aufgeteilt werden – mit dem Nordpool im Zentrum und den nationalen Küstenlinien als Ränder. Das im 19. Jahrhundert oft zitierte Bild (die Fantasie) der (kolonialen) Teilung einer sogenannten „Terra Nullius“, eines vermeintlich „unberührten“ Grenzgebietes (ebenso eine Fantasie), das wie die Aufteilung eines Kuchens verstanden wurde, findet in der kartographischen Darstellung der Sektorenteilung des Polargebiets eine zutreffende Verwendung: Eine Bildfantasie des 19. Jahrhunderts in einer rechtliche Norm aus der Mitte des 20. Jahrhunderts wird im 21. Jahrhundert verwirklicht. Obgleich es auch andere Modelle gibt, die das unterseeische „Gebiet“ als „gemeinsames Erbe der Menschheit“ (Common Heritage of Mankind) erhalten könnten – etwa mit der Idee eines Arktis-Schutzgebiets, wie es noch 2016 von Greenpeace gefordert wurde; oder mit einer Konstruktion analog dem „Antarktischen Vertrag“ von 1959, der zu friedlicher Nutzung und wissenschaftlicher Forschung führen sollte. Entsprechend sahen unsere Diskussionen diese Umsetzung als Anachronismus an, erscheint sie doch allzu sehr als Ausdruck (kolonialen) nationalstaatlichen Denkens, um ihm heute in umfänglicher Form einen Stellenwert im Projekt zusprechen zu können. Warum nachvollziehen, was längst überholt sein sollte?

Eine andere Perspektive eröffnet der Diskurs um die rechtliche Etablierung der analog zu historischen Genozid-Tatbeständen entwickelten Norm des „Ökozids“ auf, der eine kriminelle menschliche Aktivität entgegen der Prinzipien der Umweltgerechtigkeit beschreibt. Auf der Suche nach treffenden Titeln, die unser Interesse an der Arktis verbildlichen könnten, stießen wir auf „The Right to be Cold“, den Titel eines Buchs von Sheila Watt-Cloutier, aus dem Umfeld der Bewegung des ICC (Inuit Circumpolar Council), die Rechtsansprüche im Klima-Wandel verbindlich an die Menschenrechte zu knüpfen sucht. Watt-Cloutier arbeitete in der Darstellung der dramatischen Veränderung der Lebensumstände der Inuit im kanadischen Raum die Arktis als die Weltregion heraus, in der sich der globale Klimawandel als ein Vorbote lokal unmissverständlich widerspiegelt. Über den im Vergleich dreifach höheren Temperaturanstieg gegenüber dem Rest der Welt wird das Schmelzen des arktischen Eises als sicherer Indikator des Klimawandels und zugleich als potentieller Kipppunkt sichtbar, - das Schmelzen des grönländischen Eispanzers, des arktischen mehrjährigen Eises und das Tauen des arktischen Permafrostes beschleunigt den Prozess unkontrolliert.

In diesem Feld aus nationaler, internationaler und indigener (lokaler) Rechtsprechung und ihren Diskursen schob sich 2021 ein Rechtsstreit zwischen Greenpeace und der norwegischen Regiering vor dem norwegischen Verfassungsgericht symptomatisch in unser Sichtfeld, in dem ein im norwegischen Grundgesetz verankerter Passus auf das Rechtes einer gesunde Umwelt mit der norwegische Ökonomie der Ölförderung kollidierte.


3. Alle hier ausgeführten inhaltlichen, konzeptionellen und Bild-befragenden Aspekte konzipieren das Pilotprojekt als mehrsemestriger Prozess künstlerisch-wissenschaftlicher Recherche, der immer wieder durch Versuche interdisziplinärer Anschlussstellen geprägt sein wird. Diese Zusammenhänge sind von hochexistenzieller Bedeutung für einen gegenwärtigen Raum des Studierens, Denkens und Arbeitens, sie reichen von Fragen eines „Wie?“ bis zum Aneignen von Wissen, zur Konstruktion von Bildern für die Studierenden einer Klasse für Malerei und Kunst.

Im Kontext des Projekts stellen sich grundsätzliche Fragen in Bezug auf unsere Position und unsere Haltung: Wie können wir als Künstler*innen mit Orten und Situationen umgehen, die wir aus der Distanz erleben, und was genau heißt hier Erfahrung? Aus welcher Perspektive können wir sprechen, forschen und arbeiten, ohne dabei gewaltvolle, koloniale Strukturen kultureller Aneignung zu reproduzieren, wenn unsere eigene Position doch meistens eine privilegierte ist? 

In diesem Zusammenhang wurde die Frage der Legitimation einer Forschungsreise nach Tromsø bzw. Spitzbergen ausgiebig diskutiert: Welche (auch künstlerische) Forschung kann überhaupt in der prekären Klimasituation eine derartige Reise per Flugzeug rechtfertigen? Inwiefern ist die Forschungsreise, die physische Nähe unabdingbar für unser Projekt? Oder wäre nicht sogar eine Forschung aus der Distanz, mit ihrer Abstraktion inhaltlich (und ethisch) konsistent? Was heißt in diesem Zusammenhang ei CO"-Ausgleich, wie von Fluggesellschaften angeboten?

Weitere Fragen ergaben sich:

Wer spricht, wer produziert, wem gehört ein Bild eines Kontextes?

Wie lässt sich artistic research auch als activist research begreifen, und wie können wir auf der Grundlage von Solidarität und Empathie von der Geschichte und dem Wissen lernen, die im kollektiven Gedächtnis von communities eingeschrieben und archiviert sind?

Wie gestaltet sich unsere Rolle in Bezug auf die wissenschaftliche Forschung, in welcher Form gestalten sich Austausch oder Abgrenzung?

Wie hängen die Bildproduktion und Distribution, ihre Veröffentlichung zusammen?

Wo und wie möchten wir ausstellen?

Wie – nach innen in die Gruppe und nach außen in Kontaktaufnahmen und Kooperationen – definiert sich hier das Projekt als Gruppenprojekt und wie werden darin einzelne Arbeiten stehen?

So gesehen stehen wir in einer Situation, sich mit einem bestimmten Inhalt und mit der Frage nach der Rolle des Bildhaften dafür zu beschäftigten, selbst-reflektive Fragen der eigenen Legitimität und der Ethik von Bildern und Wissen zu stellen, die die Möglichkeit der Bildkonstruktion an sich in Frage stellt und – zugleich und widersprüchlich hierzu – dennoch einen Raum seiner Möglichkeiten versucht.

 

4. In einem ersten Schritt des Projekts ergaben sich nach Diskussionen der teilnehmenden Studierenden sechs Arbeitsgruppen mit Themen wie: Artistic Research, existierende Künstler*innen-Arbeiten hierzu, Abstraktion/technische Bildverarbeitung,  Geschichtspolitische Bezüge, Klimawandel/Eisschmelze und Juristische Fragen/Entwicklungen.

Diese Recherchephase zur Fragen Artistic Research begleitete eine Anzahl von Vorträgen. Stephan Mörsch (Künstler, Berlin) erläuterte anhand seiner 1:10 großen Modelle der Baumbesetzungen im Hambacher Forst sein Vorgehen einer akribischen, modellhaften Rekonstruktion und einer chronistischen Erfassung; Susan Schuppli (Künstlerin, Autorin und Filmemacherin, London) stellte ihren Film „Ice Cores“ als Teil ihres Langzeit-Projekt „Learning from the Ice“ vor, in dem sie auf die material evidence der Eiszylinder verweist, die vertikal dem sogenannten ewigen Eis entnommen sind. In ihrer chemischen Analyse spiegelt sich die klimatischer Veränderungen wieder. Ayşe Güleç (Kunstvermittlerin, Aktivistin und Kuratorin, Kassel) sprach über die das Aktionsbündnis „NSU-Komplex-auflösen“ und stellte hierbei der artistic research eine activistic research gegenüber. Einen ersten Einblick in den internationalrechtlich-akademischen Diskurs bzgl. der Arktik gab Malte Jaguttis (Jurist, Köln, Teilnehmer des Projektes „Die Teilung der Erde“) und veranschaulichte, wie hier staatszentriertes Gewohnheitsrecht, Völkervertragsrecht und neu entstehende rechtliche Kategorien und Ansprüche aufeinandertreffen. Beispiele hierfür bilden etwa das Seevölkerrecht, das nationale Ansprüche auf den  arktischen Tiefseegrund ebenso abbildet wie common heritage Prinzipien, oder das Spannungsfeld um den Arktischen Rat, in dem eine staatsgetragene Anrainerordnung durch Teilhabeansprüche über eine Indigenous Governance oder von „near-Arctic states“ wie China herausgefordert wird.

Mit Markus Bertsch (Kurator 19tes Jahrhundert, Hamburger Kunsthalle) betrachteten und diskutierten wir „Das Eismeer“ von Caspar David Friedrich; mit Esther Leslie (Autorin „Synthetic Worlds. Nature, Art and the Chemical Industry”, London) sprachen wir über Aggregatzustände, flüssige Kristalle und ebenso über das Bild „Eismeer“ von CDF. Einen weiteren Fokus bildete der Besuch der Ausstellung „Magnetic North“ (Schirn Kunsthalle, 2021, Frankfurt/Main), die die „typisch kanadische“ Landschaftsmalerei des frühen 20 Jahrhunderts im Verhältnis zu kolonialen Denkweisen und Strukturen betrachtete. Darüber hinaus entwickelte sich eine bisher lockere Kooperation mit dem Alfred Wegener Institut, das um die Jahreswende 2020/21 mit ihrer MOSAiC-Expedition wissenschaftliche Ergebnisse zu klimatisch bedingten Veränderungen in der Arktis in öffentliche Präsenz brachte. Hier sprachen wir mit dem Leiter des Arktis-Büros Volker Rachold über Konzeption und Zusammensetzung des Arktischen Rats und über den Status der indigenen Bevölkerungen als sogenannte Permanent Participants (ohne Stimmrecht, permanent beteiligt). Kritisch diskutierten wir die beratende Funktion des Arktischen Büros bzgl. der Präsenz der Bundesrepublik als Observer State (ohne Stimmrecht, ohne permanente Beteiligung) im Arktischen Rat.

Zuletzt sprachen wir mit der dänischen Künstlerin Eva La Cour sowohl über ihre Forschung auf Spitzbergen und Grönland im Kontext ihrer Arbeit „Geo-Aesthetical Discontent: Svalbard, the guide and post-future essayism“, als auch eine die Forschung begleitende Methode des colloborative live-editing.

 

* Sheila Watt-Cloutier, "The Right to be Cold“, 2015